SEHquenz: nach Strich und Faden

Überlegungen zu Nanja Heids Werkreihe „Sequenz“

Raimar Stange, Berlin im Februar 2022

I. Klang als Strich

Alltäglich, im wahrsten Sinne des Wortes: Ein Jahr lang hat Nanja Heid nahezu jeden Tag Klänge und Geräusche aus ihrem Lebensumfeld zeichnerisch notiert. Wenn es der Künstlerin möglich war, hat sie dazu immer den gleichen Platz aufgesucht, bevorzugt außerhalb geschlossener Räume. Beim Zeichnen hält Heid die Augen geschlossen, so konzentriert sie sich einerseits ganz auf das Hören, entzieht andererseits dem Vorgang des Zeichnens im „blinden Vertrauen“ so etwas wie eine visuelle Kontrolle. Strich für Strich ergeben sich dann gezeichnete Porträts des Prozesses ihrer Hörerlebnisse, in denen reale Ereignisse von Außen in das Innere (des Ohres) eindringen. Klarerweise geht es bei diesem Rezeptions- und Transformationsprozess der Künstlerin nie um einen einzelnen Klang oder um nur ein singuläres Geräusch, vielmehr handelt es sich immer um die variantenreiche Dauer des Hörens, in der das Leben zum Konzert gleichsam unkomponierter konkreter Musik wird. In einem zweiten Arbeitsschritt dann hat Nanja Heid die Zeichnungen mehrschichtig auf Stoff und Papier genäht, dieses möglichst noch am selben Tag. Nur ausnahmsweise, etwa wenn Nanja Heid auf Reisen war, wurden die Bilder später genäht. Für Tage, an denen die Künstlerin keine Zeichnung anfertigen konnte, wurden die leer gebliebenen Blätter ebenfalls auf Stoff und Papier genäht, jetzt natürlich ohne jedwede Notation des Hörens, aber mit künstlerischen Eingriffen, wie etwa dem Einreißen einer Schicht. Wenn man so will: Das Leben wird in der Werkreihe „Sequenz“, 2018 – 2019, von der Künstlerin als auditiv wahrgenommene Abfolge verstanden, als sich ständig verändernde „Sequenz“, nomen est omen, die letztlich zu so etwas wie einem künstlerischen Tagebuch1 transformiert wird.

II. Der Tanz der Synästhesie

Das Konzept, Klang und Geräusche beziehungsweise deren Wahrnehmung auf die Fläche eines Papierblattes zu übertragen, basiert auch auf der Möglichkeit von Synästhesie, also der Idee, das unterschiedliche Modalitäten unserer Wahrnehmung, hier die von Hören und Sehen, miteinander verbunden werden können2. Nanja Heid nun bildet in ihren Zeichnungen die von ihr gehörten Klänge und Geräusche nicht einfach ab – wie auch sollte sie etwas durch und durch Immaterielles sichtbar, vielleicht gar „realistisch“ darstellen?! Stattdessen führt sie mit ihren gezeichneten Strichen eine Parallelaktion durch, die vor allem den Rhythmus, die Variationen des Gehörten im konkreten Sinne des Wortes nachvollzieht. Mit ihrer mehr oder weniger spontanen Aktion der Zeichnung überträgt die Künstlerin also mehrere Töne, die sie nacheinander gehört hat, in Linien, die dann eine „Sequenz“ von nachempfundenen Klängen und Geräuschen bilden. Dass diese zeichnerische Aktivität, die übrigens eher zufällig an die abstrakte Kunst der 1950er Jahre erinnert, durchaus gestische Momente aufweist liegt nahe. Und erlaubt einen Vergleich mit der ebenfalls körperlichen Aktion des Tanzes: Hier wie dort wird aktiv reagiert auf eine zeitlich begrenzte Strecke von Klang und Rhythmus.

III. Zur technischen Reproduzierbarkeit

Neben der synästhetischen Übersetzung von Klang zu Zeichnung, sowie der Transformation von außen nach innen ereignet sich in „Sequenz“ eine weitere, bereits kurz erwähnte Übersetzung, nämlich die von Zeichnung in ein mehrschichtiges genähtes Bild aus Papier und Stoff. Hier spielt Walter Benjamins Diktum der „technischen Reproduzierbarkeit“4 insofern eine Rolle, als die Zeichnung da mit Hilfe einer Nähmaschine gleichsam als werkimmanentes „Reeanactment“ reproduziert wird. Das gestisch-ungeplante Moment, das in den Zeichnungen direkt gekoppelt ist an die Tätigkeit der menschlichen Hand – lediglich ein einfacher Stift ist dazwischen geschaltet – wird bei dieser reproduzierenden „Wiederaufnahme“ durch den Einsatz einer relativ komplexen technischen Maschine zumindest relativiert, bleibt aber in der dennoch dynamisch anmutenden (Un)Ordnung der genähten Linien noch ein Stück weit zu erahnen. Die Idee von Unmittelbarkeit wird zudem durch die Prozesshaftigkeit der zwei Arbeitsschritte künstlerisch hinterfragt, denn dieses fast schon konzeptionelle Arbeiten in zwei Etappen nimmt der künstlerischen Prozedur eben die Form der (unreflektierten) Spontanität, die untrennbar mit dem Begriff „Unmittelbarkeit“ verbunden ist. Übrigens: Obwohl Heids Nutzung einer (handwerklichen) Maschine in dem Kontext der technischen Reproduzierbarkeit diskutiert werden muss, gelingt es der Künstlerin der Technik den Stachel der Vervielfältigung zu ziehen, bleibt doch jedes genähte Bild ein Unikat.

IV. Das emanzipierte Bild

Auch durch den Einsatz von Farbe sowie durch die Materialität des Stoffes unterscheiden sich die genähten Bilder signifikant von den Zeichnungen. Bei dieser Transformation nämlich wählt die Künstlerin die Farben und das Material von Papier und Stoff frei, also ohne dabei an die zuvor in den Zeichnungen künstlerisch „protokollierten“ Klänge und Geräusche zu denken. Zudem emanzipieren sich auch die nun genähten Linien von der zeichnerischen Übersetzung „Auditives in Visuelles“, und zwar dadurch, dass die von ihr lose gelassenen Endfäden diese Linien eigenständig fortsetzen. Der serielle Moment der Präsentation – „Sequenz“ wird als Reihe aller Bilder des Jahres gezeigt -, der das einzelne Bild in einen spannungsreichen Dialog mit den anderen ausgestellten Bildern setzt, schließlich verändert den Charakter der Arbeiten zudem. Nanja Heid selbst sagt dann auch über ihre genähten Bilder: „Das Bild ist eine Komposition von Linien, Farben und Materialien“, und: es „spiegelt nicht die ursprüngliche Klanggebung wieder“. Vielmehr werden diese Bilder als deutlich variierende Reeanctments der Zeichnungen letztlich zu autonomen Kunstwerken, denen es nicht zuletzt gelingt, dem Betrachter „Raum und Zugang zu den eigenen inneren Bildern zu bieten“ (Heid). Und die sich selbstbewusst einschreiben in die Tradition abstrakter Kunst.

1- Das Tagebuch im künstlerischen, also weiteren Sinne hat längst seine Tradition in der modernen Kunstgeschichte. Man denke nur an Andy Warhols „Time Capsules“, On Kawaras „Date Paintings“ oder Hanne Darbovens Projekt „Schreibzeit“.
2- Das Verschmelzen von Klang und Farbe tritt spätestens 1725 auf den ästhetischen Masterplan. Damals entwarf Louis-Bertrand Castel nämlich das wohl erste „Farbenklavier“. Der Komponist Alexander N. Skrabin dann schuf 1910/11 erstmals ein Orchesterstück, in dem ein Farbklavier zum Einsatz kam. Ein Jahr später verband Wassily Kandinsky in seinem Bühnenstück „Der gelbe Klang“ebenfalls Musik und Farbe.
3- Tanzen als Zeichnung: 1995 tanzte Piotr Uklanski zu britischer Rockmusik und hinterließ dabei auf dem Boden der Londoner Cubitt Galerie Spuren. Die schwarzen Gummisohlen seiner Schuhe nämlich schufen in „Untitled“, 1995, eine abstrakte Zeichnung, deren Linienführung dem Rhythmus der Musik geschuldet war.
4 – Lese dazu: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Paris 1935

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