Lebendige Form
Arie Hartog / 2023
Für ihre neueren Arbeiten verwendet Nanja Heid mit großer Selbstverständlichkeit den Begriff „Bildskulptur“. Er beschreibt, was sie tut. Sie verbindet zwei Gattungen und macht aus traditionell flachen Bildern räumliche Objekte, die sie so aufbaut und arrangiert, dass sie zu Skulpturen werden. Mit Hilfe einer Nähmaschine erweiterte sie ihre Malerei um haptische Elemente und ging im nächsten Schritt bewusst in den Raum. Sie arbeitet mit den Möglichkeiten des durchscheinenden Seidenpapiers, auf wechselndes Licht zu reagieren. Manchmal strahlen ihre Werke in den Umraum hinein. Ist die Sonne weg, ziehen sie sich zurück. Die Künstlerin nutzt die beachtliche Stabilität des Materials, das im Raum hängend und teilweise gefaltet auf dem Boden liegend keine glatte Fläche ergibt, sondern Wölbungen und Mulden zulässt. Das menschliche Auge, das der so arrangierten plastischen Oberfläche folgt, nimmt die Malerei wahr, darauf einzelne Bewegungen als Linien, ferner den Nähmaschinenfaden, der sich mehr oder weniger vom Papier löst und trotz aller Leichtigkeit der Schwerkraft unterliegt, sowie die beim Nähen entstandenen Löcher. Diese kleinen Öffnungen sprengen die Wahrnehmung, sobald ein anderes, intensives Licht durchscheint. Sie bilden dann eine weitere Zeichnung aus Lichtpunkten. Heids Kunst ist ein üppiges und zugleich strukturiertes visuelles Angebot. Durch diese Kombination schafft sie Dichte und gleichzeitig ermöglichen einzelne Aspekte einen Zugang. Dazu folgende Überlegung um die Begriffe Bild, Objekt und Skulptur.
1) Bilder beinhalten Illusion. Traditionell wirken Gemälde und Zeichnungen wie Fenster in eine imaginäre Tiefe hinein. Versuche, diese Qualität zu unterdrücken, waren und sind ein wesentlicher Motor für die Entwicklung der modernen Kunst. Dabei ging es immer darum, dass ein Bild nicht sein sollte, was es nicht ist und sich umgekehrt offensiv als gemaltes Objekt zu erkennen gibt. Die erste Lösung bestand in der Leugnung der Tiefe des Bildes. Damit wurde es flach. Die Frage, die sich vor hundert Jahren stellte, war, ob sich die Illusion umkehren ließe, also nicht mehr in die Tiefe, sondern in den Raum hinein. Die Antwort lag in der visuellen Stapelung nachvollziehbar großer Formen ohne perspektivischen Verlauf. Die sogenannten Konstruktivisten plagten sich damit und wurden überrumpelt, als jemand aus einer konkurrierenden Fraktion ein Fundstück auf eine Leinwand klebte und wortwörtlich in den Raum hineindrang. In der gleichen Zeit zerstörten wieder andere den eckigen Bildrahmen mit seiner Assoziation eines Fensters. Aus dieser kurzen Kunstgeschichte lässt sich eine einfache Faustregel ableiten: Je mehr ein gemaltes Bild ein Objekt ist, desto weniger Illusion beinhaltet es und desto mehr drängt es in den Raum. Für Nanja Heid selbst mag diese Überlegung irrelevant sein, nicht aber für die Betrachtung ihrer Werke.
Indem Heid ihre Malerei aufhängt und die Durchlässigkeit des Trägermaterials buchstäblich sichtbar macht, betont sie die farbaufnehmende Qualität des von ihr genutzten Papiers. Das hat auch Auswirkungen auf die Illusion, da es in ihren Werken keineswegs immer deutlich ist, wie die Schichten gelagert sind. Dadurch spielt die Stapelung der gemalten Bildelemente eine viel geringere Rolle als die allgemeine visuelle Transparenz und die Durchdringung der Ebenen. Für die Rezeption bedeutet es eine größere Gleichzeitigkeit, da sich ältere und jüngere Farbschichten durchdringen und sich der Bildträger emanzipiert. Vor allem, wenn ihre Werke im Raum hängen, werden Malerei und Papier gleichwertig. Liegt das daran, dass sie sich der Wahrnehmung des Ganzen unterordnen? Oder ist es die von der Künstlerin ausgelotete Balance zwischen Träger, Farbe und Fäden, die diese Erfahrung erst ermöglicht? Eher das zweite, wobei die Idee des Gleichgewichts in die falsche Richtung führt.
2) Seit Anfang der 1920er-Jahre hat sich die scharfe Trennung zwischen Malerei und Skulptur erledigt. Sie blieb als Konvention bestehen, vor allem weil beide Gattungen unterschiedliche Wahrnehmungsmodi ansprechen. Ein wichtiger Gedanke dazu stammt von der amerikanischen Philosophin Susanne Langer, die in ihrem „Feeling and Form“ von 1953 schrieb, dass ein Gemälde einen virtuellen Raum schaffen könne, während die Skulptur weniger die Kunstform des Volumens sei, wie sie bis dahin meistens konzeptualisiert wurde, sondern vielmehr eine Kunst, die einen Raum sichtbar macht. Sie wies darauf hin, dass eine Skulptur als Mittelpunkt eines nur dem Werk zugehörigen Bereichs betrachtet werden kann, der streng analytisch genommen genauso wie die Tiefe eines Bildes eine Täuschung ist. Dennoch: Gesehen werden kann er. Die Quelle dieser Illusion sei, die Wahrnehmung der Gestalt wie ein Organismus, worin sich Fantasie, Tast- und Gesichtssinn überlappen. Da wir uns heute daran gewöhnt haben, Bildhauerei anders zu betrachten, scheint uns dieser Gedankengang fremd, aber der Begriff des Organismus weist, mehr als das gängige Wort Prozess, das immer Steuerung impliziert, darauf hin, dass ein Kunstwerk wachsen kann und daraus seine autonome Logik entsteht. Motor für dieses Wachstum ist die künstlerische Arbeit. Und auch wenn wir den Verlauf nicht verstehen, nehmen wir den inneren Zusammenhang wahr.
Logischerweise lässt sich dieser Gedanke des Wachstums auf Zeichnungen und Gemälde übertragen. Vor allem wenn es die im weitesten Sinn expressive Tradition betrifft, zu der auch Heid gerechnet werden kann. Die Aktualität von Langers Idee liegt darin, die Gattungen nicht zu trennen, sich aber unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi bewusst zu sein; etwa einer Skala vom virtuellen zum illusionären Raum. In einer kurzen Passage betonte die Philosophin, dass diese letzte Illusion und damit die Wirkung von Skulpturen sich oft zerstört, wenn sie berührt werden und das, was wie ein Organismus aussah, sich als toter Stoff erweist. Ihr Kernbegriff war genau umgekehrt die „lebendige Form“ als Ausdruck des Fühlens, also immer in Bezug auf wahrnehmende Menschen. Dabei nutzte sie das Wort „Fühlen“, um die komplexe Beziehung zwischen lebenden Wesen und Welt zu beschreiben. Die Skulptur ist dann kein totes Material, wenn sie als lebendige Form wahrgenommen wird. Spätere Generationen von Kunstphilosophen haben diesen Begriff verworfen, ihn als Zirkelargument abgelehnt, auch weil so viel anderes inzwischen Bildhauerei genannt wurde. Im Fall der Bildskulpturen von Nanja Heid lohnt es sich, ihn aus der philosophischen Mottenkiste zu holen. Er ermöglicht es, eine spezifische ästhetische Qualität ihrer Kunst zu benennen und zu durchdenken.
Nanja Heid bewegt sich mit großer Sicherheit zwischen und in zwei Gattungen. Ihre Bildskulpturen sind lebendige Formen, die den Raum um sich bestimmen, es zulassen, sich ihnen zu nähern, um dann zu sehen, was sich da alles auf der Haut abspielt. Eine lebendige Form ist nicht eine, die in irgendeiner direkten Weise auf Leben weist, sondern eine, die ihr Umfeld und also ihr Publikum sinnlich aktiviert. Heids Bildskulpturen sind keine bloßen Objekte. Sie sind eindeutig mehr – und im Begriff der lebendigen Form verbirgt sich eine Erklärung, warum es auch Skulpturen sind.