Partitur der Bilder – Jeder Tag klingt anders

Karla Wagner
Bremen 2024

Nanja – der Name füllt den Raum, schwingt und klingt. Die Webseite Nanja Heids lädt dazu ein hinzuschauen, sich mit den Werkzeugen der Künstlerin zu befassen und zu erforschen wie ihre Arbeiten miteinander verwoben sind: WASHI, ODEM, RAUSCHEN, WAVE, PULS, REQUIEM, ECHO, AURORA, SYNTHESE, SEQUENZ, STEINE – Musik und Bildskulpturen als lebendige, sich gegenseitig inspirierende und fördernde Segmente. Nanja Heid wurde 1985 in Savigny in der Schweiz geboren und wuchs in Süddeutschland auf. Nach der Schule zog es sie nach Australien. Der Süden Deutschlands erschien Nanja Heid nach ihrer Rückkehr zu eng, also siedelte sie nach Bremen um, wo sie im Rahmen eines dreimonatigen Praktikums im Bremer Theater am Goetheplatz die Stadt erkundete, und aus drei Monaten wurden viele Jahre. Von 2008 bis 2015 absolvierte sie ein interdisziplinäres Studium an der Hochschule für Künste in Bremen und ist seit 2016 als freischaffende Künstlerin tätig. Zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen bezeugen ihr künstlerisches Schaffen: Bremen, Kiel, Bremerhaven, Hude, Oldenburg wie auch Echizen (Japan) und Basel, Graz (Österreich), Berlin, Hannover und Leipzig. Darüber hinaus sind Preise und Stipendien als Ausdruck ihrer vielschichtigen Kreativität zu werten: 2016 erhielt sie den Publikumspreis Winter Open Screen in Bremen, 2017 war die Künstlerin unter anderem für den Preis der Nordwestkunst in der Kunsthalle Wilhelmshaven nominiert, 2020 in ein Projektstipendium in Neuenburg eingebunden und für den Köster Award nominiert. In 2021 folgte die Nominierung für den Werner-Kühl-Preis im Kreismuseum Syke, der Kunstpreis Ottersberg, Fischerhude und die Künstlerin erhielt ein Stipendium vom Senat für Kultur der Freien Hansestadt Bremen. 2022 folgten ein Projekt und Arbeitsstipendium im Wilke-Atelier Bremerhaven und ein Stipendium von der Stiftung Kunstfonds. Nanja Heid wurde für den 46. Bremer Förderpreis für bildende Künste in der Städtischen Galerie Bremen nominiert und konnte 2023 eine Projektförderung des Senators für Kultur, Bremen für ihr künstlerisches Wirken nutzen. Zudem war Nanja Heid schließlich Preisträgerin vom Werner-Kühl-Preis im Kreismuseum Syke. Aktuell, also seit 2024, hat sie ein Residenzstipendium im Tabakquartier Bremen erhalten. Bis 2018 arbeitet die Künstlerin in Kleinformaten und figürlich, experimentiert in verschiedenen Bereichen und empfindet, nachdem sie Nähen und Malen zusammengebracht hatte, wie sie sagt „ein Wie-zu-Hause-ankommen“. Ein Jahr lang, in 2018/2019, vereint Nanja Heid in ihrer Werkreihe „Sequenz“ Klang und Strich, entwickelt ein künstlerisches Tagebuch. Jeden Tag, im Winter manchmal lediglich für fünf Minuten, im Sommer bis zu zwei Stunden, notiert sie Klänge und Geräusche mit Bleistift, Kugelschreiber oder Tintenroller aus ihrem Lebensumfeld zeichnerisch, lauscht dem Rattern von Motoren, dem Vogelgezwitscher, den Stimmen von Passanten und Passantinnen. Die Uhrzeit legt Nanja Heid zu Beginn nicht fest, nach und nach entscheidet sie sich für Rituale und Regeln. Sofern es der Künstlerin möglich ist, sucht sie dazu immer denselben Platz auf und bevorzugt den öffentlichen Raum. Während des Zeichnens hält Nanja Heid die Augen geschlossen, konzentriert sich so ganz auf das Hören, Blindzeichnen, ohne die Möglichkeit das Geschaffene visuell zu kontrollieren. Die gezeichneten Skizzen entstehen in einem Schritt, bauen sich Strich für Strich auf, dokumentieren die Hörerlebnisse. Die realen Ereignisse der Außenwelt finden so Einlass in die Innenwelt der Künstlerin. Dabei werden zu keinem Zeitpunkt einzelne Klänge oder Geräusche verwirklicht, vielmehr kristallisieren sich variantenreiche Abbilder des Gehörten heraus, die Skizzen als Konzert des Lebens. Identität sei für sie Illusion, so Nanja Heid. Sie erlebe fortwährend Zustände, die sich ändern. Durchgängig ist es für die Künstlerin klar festzustellen, wie sich das Bild verändert. Zu Beginn des Zyklus arbeitet sie flächiger, tastet sich vorsichtig an das Material heran, fühlt sich im Laufe des Prozesses mehr und mehr verpflichtet die Welt der Klänge und Geräusche in ein Ensemble, ein Konzert zu transformieren, gleichsam eine Partitur zu erschaffen, Bilder und Musik als eine Einheit zu realisieren. Nach dem Fertigstellen der Hördokumente, fertigt Nanja Heid Papierschichten an, die sie in die Skizze mit einnäht und die im Laufe der Zeit farbkräftiger erscheinen, möglichst noch am selben Tag erfolgt dieser Arbeitsschritt. In Ausnahmefällen, wenn die Künstlerin beispielsweise auf Reisen ist, werden die Bilder später genäht. Und für die Tage, an denen keine Zeichnungen entstehen, näht die Künstlerin die leer gebliebenen Blätter auch auf Stoff und Papier, in diesem Fall selbstredend ohne die Hörerlebnisse, wohl aber mit anderen Eingriffen, beispielsweise reißt sie eine Schicht des Stoffs oder Papiers ein. Der Einsatz von Farbe wie auch die Materialität des Stoffes und Papiers erfolgt frei und spontan, ohne an die „Klang- oder Geräuschprotokolle“ zu denken. Nanja Heid übersetzt das Gehörte ins Visuelle, erschafft durch den Prozess des Nähens einen Dialog zwischen den Sinneswahrnehmungen. Insgesamt versteht die Künstlerin „Sequenz“ als ein sich ständig transformierendes und dynamisches Dokument des Lebens und sagt: „Das Bild ist eine Komposition von Linien, Farben und Materialien“. Es spiegele nicht die ursprüngliche Klanggebung wider, vielmehr werden die Bilder als deutlich variierende Reeanctements [Nachstellungen] der Zeichnungen zu autonomen Kunstwerken, denen es nicht zuletzt gelinge, dem Betrachter „Raum und Zugang zu den eigenen inneren Bildern zu bieten“ und die sich selbstbewusst in die Tradition abstrakter Kunst einschreiben. Beeindruckend dokumentiert die Künstlerin diesen seriellen Zyklus im Rahmen einer Ausstellung von 356 Bildern. Im 2020/21 folgenden Zyklus „Puls“ lauscht Nanja Heid zwölf Monate lang täglich ihrem eigenen Herzschlag und zeichnet ihn auf Kalligraphiepapier auf, verwendet zum Abhören ein Stethoskop, das, so die Künstlerin, eher hohe Töne denn basslastige offeriert. Die skizzenhaften Aufzeichnungen fertigt sie mit geschlossenen Augen an, die Künstlerin ist Ohrenzeugin ihrer eigenen Körpermusik, der Rhythmus des Herzens bestimmt die Bewegungen der Hand auf das Blatt, die Augen als mögliches Korrektiv sind ausgeschaltet. Empfindungen jedoch keine Erwartungen fließen in diese Phase ihres künstlerischen Wirkens ein. Nanja Heid versucht grundsätzlich jegliche Erwartungen loszulassen. Rhythmus, Töne und Geräusche des Herzschlags klingen, werden zu Musik, klangliche und rhythmische Ereignisse, nonverbal, erst im Folgenden werden sie in eine eigene Sprache übersetzt. Im Anschluss an die Aufzeichnung des inneren Hörens und Erlebens näht die Künstlerin auf einer zweiten Schicht mit ihrer Industrienähmaschine lineare Ausschläge aufwärts und abwärts, analog der Sinneseineindrücke und sozusagen ein Protokoll des Gehörten. Die Nadel ersetzt den Stift, die Maschine tritt an die Stelle der manuell aufgezeichneten Herztöne. Während dieses Arbeitsprozesses reißt das dünne Kalligraphiepapier häufig. Es entsteht ein Bruch zwischen dem erlebten Körpergeschehen, die Eins-zu-Eins- Dokumentation der Herzschläge wird unterbrochen und in eine neue Dimension überführt. Der Körper als Klangquelle und Resonanzkörper tritt so in den Hintergrund. Das Stethoskop ist eher ein Werkzeug aus dem naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich, knüpft wenig an sinnliche und kinästhetische Erfahrungen an. Den Einsatz von Stift und Nadel können Zuschauende als künstlerisches Tool identifizieren. Die Sinnesdaten werden in eine ästhetische Form überführt. Durch das Zusammennähen zweier Schichten legt sich eine weitere Papierschicht wie eine Haut auf das gerissene Gewebe und hält es zusammen, der Arbeitsschritt schafft eine neue Komposition. Dabei gelingt es Nanja Heid Licht und Raum einzubeziehen, sie erweitert den Klangrausch um eine weitere Definition. Mittels der Handzeichnung wie auch der Arbeit mit der Nähmaschine entstehen Gewebe, gelingt es der Künstlerin die naturwissenschaftliche Studie des Herzschlags in Poesie und Ästhetik zu übersetzen. Und sie macht das Herz verstehbar, lässt Zuschauende und Hörende teilnehmen. Die Verwandlung in die ästhetische Form akzentuiert die Intensität der individuellen Erfahrung. Das Herz als Zentrum allen Lebens symbolisiert für Nanja Heid Verlässlichkeit, Bindeglied, es interagiert mit dem gesamten Körper – nachvollziehbar, dass dieser Muskel metaphorisch gewertet wird und immer wieder in der Literatur, Musik und Kunst eine herausragende Rolle spielt. Nanja Heid schafft in ihrer Werkreihe „Rauschen, Odem, Echo, Requiem, Aurora, Synthese, Steine“ eine neue Begrifflichkeit, die der Bildskulptur. Hierbei werden aus den traditionellen, flachen Tafelbildern räumliche Objekte. Sie beziehen die Umgebung und den Raum aktiv mit ein, werden zu dynamischen, sich immer wieder ändernden Skulpturen, abhängig von Raumgröße und Raumhöhe. Die Künstlerin verwendet für diese großformatigen Arbeiten Wenzhou-Seidenpapier, das teilweise bis zu zehn Meter lang ist. Zunächst bearbeitet Nanja Heid das großformatige Papier mit Druckfarbe auf der Wärmeplatte, es wird sozusagen mit Farbe überzogen und bedarf einer wochenlangen Trocknung, bevor die Malerei mit Hilfe der Nähmaschine haptisch erweitert wird. Die Arbeitssituation im Atelier erfordert von der Künstlerin höchste Konzentration: Wie verhält sich das Material mit der Farbe und der Technik unter den Nadelstichen der Nähmaschine? Das Papier ist nicht mehr nur Untergrund, sondern elementarer Bestandteil der Arbeit und Mitgestalter. Beim Malen und Nähen verbindet sich die Künstlerin mit der Arbeit und gerät – so die Künstlerin – in „flow“. Das Material wird durch den Prozess des Nähens durchdrungen, die Nähte ziehen sich zusammen, es verändert sich komplett und präsentiert, anders als Tafelbilder, zwei Seiten. Nanja Heid sagt: „Wenn ich das Gefühl, es klingt nicht, lege ich [das Werk] erst einmal zu Seite.“ So kann es durchaus sein, dass es Monate oder Jahre benötigt, bevor die Künstlerin ihre Arbeit als fertig bezeichnet. In der Präsentation im Raum unterliegen die Bildskulpturen dann wieder einer neuen Dynamik. Die Bildskulpturbahnen hängen im Raum, sind in Bewegung, liegen mal mehr, mal weniger auf dem Untergrund auf. Manchmal strahlen sie in den Raum hinein, wirken transparent und leicht. Die Durchlässigkeit des Trägermaterials ist sichtbar, Malerei und Papier stehen in keiner Hierarchie zueinander, sie sind gleichwertig. Die Bildskulpturen stehen im Dialog mit Raum, Licht und Mensch. Sie unterliegen einer ständigen Veränderung. Je nach Tages- und Jahreszeit verändert sich das Licht ständig. In den Bildskulpturen sind all diese Veränderungen, alles Changieren sichtbar. Das menschliche Auge nimmt nun die Malerei wahr, kann die einzelnen Nähmaschinenfäden identifizieren, den im Papier entstandenen Löchern folgen und aktiv das Umfeld der Bildskulptur erkunden. Die Bildskulpturen Nanja Heids sind visuelle Angebote für die Betrachtenden und als lebendige Formen zu werten. Sie erlauben es den Raum zu bestimmen, zu füllen und zu gestalten. Zuschauende können sich ihnen nähern, in Resonanz gehen, individuell entscheiden und interpretieren, was sich auf der Oberfläche abspielt, was sie erzählen. Abschließend sei noch erwähnt, dass Nanja Heids Schaffen sich auch in der Verwendung des Washi-Papiers widerspiegelt. Verletzlich und dünn ist auch dieses und zeichnet sich doch durch seine Widerstandsfähigkeit aus. Es gelingt der Künstlerin durch nähendes Zeichnen diese Momente zusammenzufügen und eine eigene Komposition zu erschaffen.

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