Vom Herzschlag zum Bildpuls
Zwischen Stethoskop, Stift und Stich
von Rainer Beßling
„Wir sprechen überhaupt viel zu viel. Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen. Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen. Jener Feigenbaum, diese kleine Schlange, der Kokon, der dort vor dem Fenster liegt und seine Zukunft ruhig erwartet, alles das sind inhaltsschwere Signaturen; ja wer nur ihre Bedeutung recht zu entziffern vermöchte, der würde alles Geschriebenen und alles Gesprochenen bald zu entbehren im Stande sein!“ (J.W. Goethe)
Im Jahr 2011 erscheint ein Aktionsvideo der American Heart Association. Dort tritt der Arzt Kenn Jeong im Kostüm von John Travolta auf. Der Verweis auf den Tanz-Star des Disco-Streifens „Saturday Night Fever“ soll Leben retten. „Stayin‘ Alive“, der Soundtrack zu einer ikonischen Szene des Films, entspricht mit 103 bpm (beats per minute) der empfohlenen Taktfrequenz zur Herzdruckmassage. Die Bekanntheit Travoltas und der passgenaue Titel sind die perfekte Merkhilfe.
Nun wird Musik ja nicht für die Wiederbelebung, sondern eher für die Vitalisierung und als Animation der Lebendigen produziert. Nahe am menschlichen Puls bewegt sie sich dennoch oder gerade deshalb oft. Mit Analogien zum Herzschlag fängt sie die Hörenden ein, mal entschleunigend, mal aufputschend. Wenn der Rhythmus zeitweise solistisch pocht, wird seine Verwandtschaft mit einem Uhrwerk erkennbar. Dann tickt unaufhaltsam ein Zeiger und der Philosophensatz meldet sich: „Zuinnerst sind wir reine Zeit“ (Henri Bergson).
Puls findet sich jedoch nicht erst in der Musik, er geht ihr bereits voraus. Genauso wie ein Metrum des Verses schon da ist, bevor dieser in den Kopf, in die Schreibhand und auf das Papier des Poeten gelangt. Und auch in der Malerei lässt sich ein Zeitmaß denken, das dem Pulsieren der Linien und dem Schwingen der Farbflächen den Takt angibt. Rhythmus ist ein Kerngeschehen im einzelnen Menschen und in der Welt, in der Natur und in der Kunst, in zahllosen Resonanzen und Parallelen.
Zwölf Monate lang hört Nanja Heid in den Jahren 2020 und 2021 täglich ihren Herzschlag ab und zeichnet ihn auf. Sie verwendet für das Abhören ein Stethoskop. Die skizzenhafte Notation fertigt sie zumeist mit geschlossenen Augen. Der Rhythmus fließt über die Bewegungen der Hand auf das Blatt, ohne dass der Blick auf die grafische Organisation das Klangerlebnis und die Zeiterfahrung überlagert. Im Anschluss an die Auf-Zeichnung näht die Künstlerin auf einer zweiten Schicht in Gestalt linearer Ausschläge aufwärts und abwärts ein Puls-Protokoll mit der Maschine. Die Nadel tritt an die Stelle des Stifts, das gelenkte Mechanische an die Stelle des Manuellen. Das Nähen auf dünnem Kalligraphiepapier lässt das Trägermaterial reissen, so als zerbreche der Bezug zum Körpergeschehen, so als liege die Zeit in Fetzen, so als zerfalle der Versuch einer Dokumentation und Bewahrung des verlaufenen Lebensabschnitts. Der Materialisierung von Zeit und Leben ist die Immaterialität des Empfindens zur Seite gestellt.
Die Ereignisse im Körperinneren treten in dem künstlerischen Langzeitprojekt als Bild nach außen. Sie werden zeitgleich und erinnernd notiert. Aufnahme und Wiedergabe verlaufen nahezu simultan und doch auch vermittelt. Der Leib ist zugleich Klangquelle und Resonanzkörper. Der Schall, üblicherweise unbemerkt, verharrt im Innenraum, ist aber gleichwohl vor allem in Ausnahmesituationen spürbar. Es bedarf einer künstlerischen Strategie und eines ästhetischen Interesses, um einen Spalt in das Alltagskontinuum zu treiben und das fokussierte Phänomen einer isolierten und intensiven Beachtung zuzuführen.
Um das Verborgene, nicht unmittelbar Hörbare und Sichtbare, erfahrbar und anschaulich zu machen, braucht es instrumentelle Hilfe und eine Übersetzung. Mit dem Stethoskop greift die Künstlerin auf ein Werkzeug aus dem naturwissenschaftlichen und medizinischen Kontext zurück. Mit Stift und Nadel vollzieht sie das Kerngeschäft der Kunst: die Verwandlung von Sinnesdaten in eine ästhetische Form mit spezifischer Apparatur, Stofflichkeit und Spur. Mit der konzeptuellen Anlage des Zyklus schafft sie Abfolge und Struktur, aber auch Polaritäten und produktive Spannungen. So etwa Perspektivenverschiebungen durch Naturkunde und Kunst, das Verhältnis von innerem Geschehen und äußerer Darstellung, von Repräsentation und Präsenz, von verschiedenen Aufzeichnungssystemen, von Hörbarem und Sichtbarem, von Erkenntnis und Erfahrung und nicht zuletzt von Begriff und Bild.
Wenn wir uns vorstellen, wie die Künstlerin alltäglich ihren Herzschlag abhört und ihn in Zeichnungen überträgt, dann lässt sich ermessen, wie viel diesem Vorgang vorausgeht, wie voraussetzungsreich Kunst im allgemeinen und grundsätzlich ist. Welche Empfindungen und Erwartungen fließen in diese Begegnung mit den verborgenen Regionen und Phänomenen des eigenen Körpers ein? Welche Auffassung von Rhythmus, Tönen und Geräuschen, welches Musikverständnis liegen vor? Welche Empfänglichkeit für das Sinnbildhafte der Naturerscheinung, welches Wissen um die Naturvorgänge liegt zugrunde? Wie ist das sinnlich Erfahrbare bereits mit Sprache belegt und erfasst?
Nanja Heid setzt der Wortsprache und objektivierenden Maßen die Notation einer rhythmisierten Linie entgegen, einen naturnahen und vitalen Verlauf. Damit kommen ein individuelles Zeitmaß, Zeichenrepertoire und Zeichnungsformat zum Zug. So spontan sie die einzelnen Signale und Impulse aufnimmt, so langsam lässt sie ihre Wahrnehmung agieren, so lange lässt sie sich Zeit. Im gedehnten Augenblick offenbart sich der Gehalt des Ereignisses. Die Künstlerin hört nicht nur, sondern lauscht, wie die Ohrenzeugin einer ihr eigentlich nicht zugedachten Körpermusik. Obwohl sie es ist, die diese Töne und Geräusche produziert, begegnet sie diesen und damit sich doch wie eine Andere. Ein doppeltes Fremdsein schafft eine merkwürdige Nähe. In dieser Betrachtungsperspektive wird das Eigene zum Allgemeinen.
So entstehen in der Handzeichnung und im Nähmaschinenstich Gewebe, die die Ausschwünge, Brüche, Abweichungen, Differenzen in Stärke und Länge und Intensität aufnehmen, verbunden mit einer Stofflichkeit, die das Flüchtige und Fragmentarische der Schallphänomene verkörpert. Die Verwendung des „Brustüberwachers“ lässt sich als eine starke Metapher für das künstlerische Vorgehen lesen. In der Regel ist es nicht die direkte, spontane, unmittelbare Aufnahme, die das künstlerische Wahrnehmen und Vorgehen charakterisiert, sondern eine Distanz, ein Zurücktreten, eine Erweiterung des Sehens durch Krücken und Prothesen, die das Vordringen in entlegene oder abgeschirmte Bezirke sowie neue Perspektiven ermöglicht.
In der Erkundung, Protokollierung und ästhetischen Verkörperung eines Teils ihrer selbst widmet die Künstlerin ein naturwissenschaftlich gebräuchliches Instrument für ihre Zwecke um, lässt dessen ursprüngliche Funktion aber weiter durchscheinen. Mit der Doppelrolle der Gerätschaft thematisiert sie die alten und anhaltenden Differenzen in Weltzugang und Daseinserkundung zwischen Naturwissenschaft und Kunst, zwischen Objektivität und Subjektivität, Argumentation und Imagination. Aus naturkundlicher Perspektive ist die Entwicklung der Welterschließung erfolgreich verlaufen: Messungen ersetzen Schätzungen, Gesetze die Gewohnheiten, Kausalitäten treten an die Stelle von Hierarchien, das Objektive löst das Subjektive ab. Doch schon immer blieb ein Unbehagen an dem Vorgehen der wissenschaftlich Forschenden. Das Unbehagen, nicht alles zu erfassen und nur das, was die wissenschaftliche Methodik und Rationalität einzufangen in der Lage ist.
Kunst nimmt andere Aufzeichnungen vor, betreibt andere Messungen, verwendet andere Maßnahmen. Herztöne und -geräusche sind nicht nur Körperdaten, die in pathologischer Perspektive Aussagekraft besitzen, sondern sind abseits konkreter Erkenntnisinteressen und jenseits funktionaler Ordnungen Musik, klangliche und rhythmische Ereignisse, poetisch, ästhetisch. Im Zentrum der Erkundung und materiellen Umsetzung stehen Prozess und System.
Philosophisch betrachtet finden sich in ihnen Repräsentation und Reflexion der eigenen Impulse und Triebkräfte. Diese sind Takt, Metrum und Rhythmus des Eigenlebens, aber auch des Austausches mit dem Außen in Resonanzen und Rhythmuserfahrungen. Herrschen in der Wissenschaft Thesen, klare Fragestellungen und Erkenntnisziele sowie Objektivität vor, gelten im Feld der Kunst ganz andere Kategorien: Offenheit, Neugier, Staunen, Intuition, Subjektivität, interesseloses und willenloses Wohlgefallen. Erlebnis und Erfahrung stehen hier an der Stelle der Erkenntnis, Singularität wird markiert, das Besondere bewahrt. Gestalt und Geste statt Empirie, Gesetzmäßigkeiten, Objektivierung. Die Künstlerin muss das Herz nicht verstehen, sie beweist nichts, sondern verweist auf etwas, hört ihm nachvollziehbar zu und macht es hörbar, sie lässt uns an ihren ästhetischen Operationen am Herzschlag teilnehmen. Sie lässt uns vor allem die Intensität ihrer Erfahrungen mitverfolgen und deren Verwandlung in ästhetische Formen.
Mit dem Herzen als Beobachtungsobjekt und Bildsubjekt fokussiert die Künstlerin die physische und für viele auch psychische Mitte des Menschen. Ein höchst erstaunliches Organ, stets wach und verlässlich. Ein faustgroßes Pumpwerk, das den gesamten Körper unterhält, Motor und Betriebsraum. Es schlägt autonom, ohne unseren Auftrag und unser Zutun, wie die Unruhe des Uhrwerks, in einem Grundschlag mit vielen Schattierungen und Variationen. Das Herz führt ein Eigenleben und reagiert auf Einflüsse von außen. Es äußert sich dazu mal mehr, mal weniger spürbar mit Symptomen und Signalen. Ihm verdankt sich die Einheit des Körpers. Blut und Gefäße verknüpfen die Glieder. Das formale unspektakuläre Organ pumpt das Blut in zahllosen Verästelungen bis an die Körpergrenzen. Versorgt werden Muskeln und Nerven, an denen Interaktionen von physiologischen und psychologischen Prozessen ablesbar sind. Die Übertragungen zwischen Impuls und Ausführung haben Entsprechungen im künstlerischen Tun. Die Modulationen des Herzschlags lassen sich analog zu den Abtönungen bildnerischer Mittel verstehen.
Wenig überraschend, dass dieses Wunderwerk in zahllosen Wendungen in das menschliche Denken und Empfinden, in die Sprache und Poesie eingeflossen ist. Die Menge der Komposita mit dem Bestandteil „Herz“ ist unüberschaubar. Metaphorisch tritt es als Ursprung, Bindeglied und höchste Instanz des menschlichen Daseins auf.
Schon die antiken Denker feierten das Organ: „Die Augen schauen, die Ohren hören, die Nase atmet Luft, und sie lassen (alles) zum Herzen gelangen. Es (= das Herz) lässt jede Entscheidung entstehen, und die Zunge wiederholt den Gedanken des Herzens.“ Oder: „Das Herz soll sich zum Verstand neigen.“ Und schließlich: „Gib deine Ohren, höre, was gesagt wird. Gib dein Herz daran, es zu verstehen. Es ist nützlich, es (= das Gehörte) in ein Herz zu geben, aber wehe dem, der es unbeachtet lässt.“ „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ liest man in „Der kleine Prinz“. Und jedermann schätzt im Alltäglichen, wenn „das Herz am rechten Fleck“ sitzt.
Nanja Heid knüpft mit ihrer „Puls“-Arbeit an Entwicklungsstränge in Naturkunde und Kunst an, die um 1800 ihre ersten bedeutenden Ausprägungen fanden. An den Diskursfronten zwischen Klassik und Romantik wächst das Interesse für das Vitale. In der Beschäftigung mit lebendigen Organismen wendet sich auch die Naturwissenschaft und die Philosophie von mechanistischen Vorstellungen ab. Die „Übergänge“ im Natürlichen gewinnen an Bedeutung, analog zu den Transformationen in der künstlerischen Praxis. Die seit Descartes genutzte Maschinenmetaphorik tritt zugunsten von organologischen Beschreibungsmodellen in den Hintergrund. So gewinnt die Chemie an Bedeutung. Das Chemische in seinen Verbindungen und Verwandlungen wird zu einer einflussreichen Denkfigur in der ästhetischen Debatte und Praxis. Dieser Einfluss der Frühromantik hält bis heute an: Die Faszination für das, was das Leben natürlicher Dinge ausmacht, bestimmt nach wie vor die künstlerische Debatte. Ein Ehrgeiz der Moderne und der Gegenwart ist es, das Lebendige in seinen inneren Verknüpfungen, aber auch in den Beziehungen zu seinem Umraum zu fassen, das Verhältnis von Subjekt und Objekt, Intellekt und Sinnen, zwischen dem Individuellen und Allgemeinen zu erkunden und zu zeigen, experimentell und authentisch.
Die Hinwendung zum Lebendigen äußert sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und zwar als Suche nach Repräsentationsformen, die sich offen, beweglich und gleichsam lebendig genug erweisen, um die Komplexität einer als organisch und lebendig verstandenen Natur aufzunehmen und wiederzugeben. Ein Charakteristikum der Suche ist die Distanzierung von einer eher starren, aus arbiträren Zeichen bestehenden Begriffssprache. Damit wächst die Bedeutung des Bildes in den unterschiedlichsten Kontexten, des Bildes als System „natürlicher Zeichen“, als offenes, intuitives, authentisches Medium.
Für Heidegger ist die Neuzeit charakterisiert durch „die Eroberung der Welt als Bild“. Gottfried Boehm „sieht in der Aufwertung der produktiven Einbildungskraft, mit der Kant den Übergang zwischen Anschauungen und Begriffen konzipiert und damit auch seine gesamte Erkenntnistheorie scheinbar auf einem bildlichen Grunde entwirft, eine die Zeit seit 1800 kennzeichnende ,Bildwelt‘ begründet.“
So besitzt das Bild einen hohen epistemischen Rang. Aber ist das Ziel in der Kunst wirklich Erkenntnis? Hält nicht die Erfahrung des Lebendigen, nicht das Wissen um das Natürliche den unabschließbaren Erkenntnisdrang auf produktivere Weise länger wach? Schärft sie nicht die Sinne und die Wahrnehmung als die vorrangigen Fühler gerade im Bezirk des Ästhetischen und Menschlichen? Dem Poetischen ist eine Problematisierung des Wissens eigen. Politik und Wissenschaft haben nichts mit Kunst zu tun. Dort rangiert das Fragen über dem Antworten. Der Lyriker Klopstock versteht unter der Nachbildung als „Darstellung“ eine „Zeigung des Lebens, welches der Gegenstand hat“ – Zeigung als Zeugung des Lebens, welcher der Gegenstand ist.
Der französische Philosoph Henri Bergson fasst die Zeit als Dauer auf, als ein schöpferisches Entwicklungsprinzip. Das Lebendige und Schaffende, ein grundlegender Bauplan mit Selbstentfaltungsenergien, vermittelt sich in diesem Zeitverständnis in der Erzeugung immer neuer Formen. Zeit trennt und fügt zusammen, lässt entstehen und vergehen, anfangen und enden, erscheint als Chronik und als Agenda. Sie tritt als Verlauf und Zyklus auf, in Episoden oder Linearität, entfaltet sich zur Serie und streut in der Struktur, verkörpert sich in Wiederholung und Differenz, bringt Unterschiede hervor im ewig Gleichen.
Dieser Gedanke lässt sich grundlegend und vielschichtig variiert auch im Werk von Nanja Heid erkennen: Jede Linie und jeder Stich setzen etwas Neues und modulieren das Bestehende. Das Neue löst das Alte nicht ab, sondern schreibt es fort, fußt auf ihm und wendet es im Kontext der Entwicklung – das Wort markiert einen Fadenverlauf aus einer stofflichen Menge, die im Verlauf ihre Konturen gewinnt. So entsteht in den Linien, den mehrschichtigen Bahnen und schließlich in dem aufgereihten und zugleich ausschwärmenden Zyklus ein wachsendes, sich permanent wandelndes System. Es bewahrt seine Ursprünge, die Impulse von außen, die eigentlich ein Innenleben verkörpern und die wechselseitigen Reaktionen des Bildorganismus selbst.
Die ereignishafte Seite der Realität ist gegen Gewohnheit und Schematismus gesetzt. Das Zusammenspiel von Handzeichnung und Nähmaschinenspur, von direkter und mittelbarer Wiedergabe, ist gegen Strukturzwang, Gewissheiten und Fixierungen der Sprache in Stellung gebracht. Das Nähen und das Papier bringen zwei verschiedene stoffliche Welten und unterschiedliche Aufzeichnungs- und Verknüpfungsweisen zusammen. Die Nadel wird zu einem Stift, der die Eigenschaft hat, über die plane Ebene hinauszugehen und sich der Körperlichkeit des Gegenstands anzunähern. Oberfläche und Innenraum werden durch eine plastische Linie mit Löchern für das Licht verknüpft. Das Blatt dient nicht mehr nur als Bildträger, sondern wird selbst Skulptur.
Die Lineaturen des Grafischen, erst recht der Faden, fungieren als Sinnbilder für das Verknüpfen von Ereignissen und von Gegebenheiten, für die Erschaffung eines Verbunds und die einzelnen Verbindungen der Elemente. So etwas heißt heute weithin Narrativ und bezeugt den Konstruktionscharakter gefasster und erinnerter Wirklichkeit. Mythologische Protagonistinnen wie Ariadne und Arachne stehen für das Werken an Wegen und Geweben. Grundmerkmale des Natürlichen und Lebendigen sind die Polaritäten und der Wandel. Dazu zählt in Nanja Heids Arbeit auch das Verhältnis von Linie und Farbe.
Die gespachtelten, fragmenthaften Farbflächen orchestrieren die Linie, bilden einen assoziativ und lose gebauten Sinnen- und Sinnesraum, eine Art Echokammer, die sich nicht am äußeren Naturkolorit der Jahreszeiten orientiert, sondern die Empfindungen eines Farbklimas während der Aufzeichnungen des Herzschlagprotokolls wiedergibt. So spielen äußere und innere Natur auf der Farbebene zusammen.
Die seismographischen Notizen sind zwischen stabilisierender Rückseite und Farbbahn wieder dem Ursprungszustand gleich in einen Innenraum zurückgelegt, innen und außen sind auch im finalen Werk prominent dargestellt, mit der Tendenz zur Transparenz, aber auch mit opaken Anteilen. Repräsentation und Präsentation spielen zusammen, Bewusstheit und Emotionalität, Gedanke und Bild.
Die Künstlerin orientiert sich an Formen und Zeichen des Natürlichen. Das heißt aber nicht, dass sie sich der Bedeutung der inhaltsschweren Signaturen, der Signale, die von der Natur ausgehen, ganz bewusst ist. Sie nimmt wahr und verwandelt mit den Mitteln und in die eigene Logik ihrer Kunst. Die Verkörperungen sind immer selektiv und unvollständig. Ein Großteil der Formen und Materialien, in denen sie sich ausdrückt, bleiben auch ihr im besten Fall verschlossen und geheimnisvoll. Auch schon die Wahrnehmung ist vielfältig vorgeformt. Beides zusammen setzt die Betrachtenden auf die Spur, und auch diese sind bereits geprägt. Die dokumentarische wie auch künstlerische Darstellung eines Objekts ist immer in Dialogsituationen eingebettet: Anything said is said by an observer. Anything said is said to an observer. (Heinz von Foerster)
In der Analogie zum lebendigen Körper ist die skulpturale Erscheinung des Jahreszyklus von Nanja Heid durch Präsenz und Präsentation geprägt, durch Verhüllen und Offenbaren. Das Objekt, frei im Raum hängend, interagiert mit dem Raum, so wie die Betrachtenden mit ihm in Beziehung stehen. Die Wahrnehmung von etwas unmerklich Bewegten und Bewegtes Repräsentierenden vollzieht sich aus einer Bewegung heraus, aus einem Umkreisen, das in seiner Veränderung stets Veränderliches zusammensetzt und wieder zerlegt, Komposition und Dekomposition in einem. Der Standpunkt ist nicht starr, Distanz wird tendenziell verhindert. Das Publikum ist Teil der Installation, sein Puls von vielteiligem Pulsieren umstellt. Das stumme Bild-Arrangement tönt in Linienereignissen und Farbstofflichkeit. Die objekthaften Bahnen und das vielfarbige und vielgliedrige Ensemble fügen sich zu einem orchestralen Klanggebilde in Polyrhythmen und Phrasierungsvarianz. Die Perspektiven und Resonanzenergien verändern sich stetig. Das körperliche Gegenüber in seiner plastischen und organischen Anmutung formiert eine Folge und ein Feld, reiht sich auf und streut, markiert wechselweise Raum und Zeit. Eine Botschaft der Präsentation ist auch: Das Vernähte ist von jedem einzelnen Blick selbst noch zu verknüpfen.
Die bildhaft realisierte Metamorphose selbst wird zur Metapher des vitalen Organismus, dessen Wesen vor allem in den Schwellen und an den Grenzen zu finden ist. Ein bedeutsamer Transitbezirk ist der zwischen Erleben und Erkennen, ein permanentes Pendeln, das den Charakter der ästhetischen Erfahrung kennzeichnet. Der Kern aller Poesie ist zuerst und zuletzt ein Staunen, das Beharren auf dem Eigenen, dem Subjektiven und auch die Zulassung des Zaubers und des Bezaubertseins. Gilt auch als Qualität von Kunst, das Universelle im Individuellen sichtbar zu machen, kommt es doch darauf an, das Einzigartige bleibend zu exponieren, als das selten Artige, den individuellen Puls, den Motor und das Getriebe einer singulären Existenz.