Von der Brüchigkeit des Seins
Gedanken zum künstlerischen Werk von Nanja Heid in fünf Fragmenten
Raimar Stange,
Berlin im Dezember 2019
I.
Die Blätter aus Nanja Heids Werkgruppe „Washi“, 2019, die die Künstlerin jetzt in ihrer Ausstellung „zwischenhinein“ in der Kieler Galerie Simone Menne zeigt, sind so etwas wie künstlerische Hybride aus Papierarbeiten und Textilien, wird da doch von der Künstlerin auf Papier nähend gezeichnet. Darum schon jetzt ein ganz früher Exkurs: Im sechsten Buch seiner „Metamorphosen“ berichtet Ovid von Philomela, der Tochter des attischen Königs Pandion, die von Tereus, dem König der Thraker, verschleppt und mehrmals vergewaltigt wurde. Damit die misshandelte Frau das („patriachalische“) Verbrechen nicht anzeigend aussprechen konnte, hat Tereus ihr schließlich auch noch die Zunge abgeschnitten. Doch Philomela beherrschte die Technik des Webens und so wob sie stattdessen ihre lange währende Leidensgeschichte in ein Gewand für ihre Schwester Prokne, in ein „kommunizierendes“ Textil also, das durchaus als Prototyp für jedwedes Nicht-gesprochene, ja für Texte schlechthin gelten kann.
Texturen nun prägen auch das künstlerische Geschehen in Nanja Heids Werkgruppe „Washi“, und dieses gleich in mehrerer Hinsicht. Zum einen wird das japanische Papier, auf das die Künstlerin hier, wie gesagt, näht, durch ihren wohlkalkulierten Eingriff zum Gewebe, zu einem mit Zeichen besetzen Text/il. Zum anderen stellen diese Zeichen, es handelt sich jeweils um eine Gruppe von Menschen, durch die Aneinanderreihung in der Serie Variationen des Motivs vor, serielle Variationen gleichsam als musikalisches Muster (= Textur). Die jeweiligen Motive nun, die nach fotografischen bzw. gezeichneten Vorlagen genäht wurden, fragen so poetisch wie konsequent gleichsam nach der „Dehnbarkeit“ ihrer visuellen Erscheinung. Soll heißen: Die hier vorgestellten Menschen(gruppen) sind dargestellt in einem vielleicht als „krakelig“ zu bezeichnenden Strich, der die genutzten Vorlagen frei interpretiert. Diese Zittrigkeit ist selbstverständlich auch der medialen Technik des Nähens geschuldet, doch sie ist vor allem eine bewusste Entscheidung der Künstlerin, mit der sie in ihren Interpretationen auslotet, wie weit sie sich bei ihrer künstlerischen Darstellung von einer „realistischen“ Abbildung entfernen kann, um sich dann eine zuweilen fast schon abstrakt zu nennende Visualisierung leisten zu können, ohne das gewählte Motiv bei diesem ästhetischen Balanceakt gänzlich aus den Augen zu verlieren.
II.
Die besagte Zittrigkeit und Freiheit der Interpretation gibt im Zusammenspiel mit der Tätigkeit des Nähens, die ja zumindest ihrer Wortbedeutung nach nicht nur Textilteile verbindet, sondern durchaus auch z. B. Hautwunden zusammennäht, den von Nanja Heid präsentierten Menschengruppen trotz – oder gerade deswegen? – ihrer zuweilen schwer erkennbaren Darstellung, eine dezidierte Inhaltlichkeit: Die Werkgruppe „Washi“ – der Titel benennt übrigens das japanische, mal handgewebte, mal maschinell hergestellte Papier – zeugt von der unstabilen Brüchigkeit einer jedweden menschlichen Existenz. Eine existentielle Verletzlichkeit kommt hier also in das künstlerische Spiel, die bereits auch in Ovids eingangs erwähnter Metamorphose Initialzündung ist für den „textilen“ (künstlerischen) Akt. Diese Verwundbarkeit betont Nanja Heid zudem dadurch, dass sie offene Stellen, quasi „Wunden“ in das durch Befeuchten fragil gewordene, wenn man/frau so will: verletzliche Washipapier reißt, die sie dann durch ihr nähendes Zeichnen zumindest ein Stück weit wieder zusammenfügt. Die Endfäden bleiben schließlich lose hängend auf dem Papier sichtbar, werden also nicht abgeschnitten, sondern verkünden vom Arbeitsprozess der Künstlerin. Dass die Fäden nicht „vernäht“ wurden, wie eigentlich üblich, verstärkt zudem die Anmutung von brüchiger Unsicherheit, lassen sich doch die Blätter so geschwind wieder auftrennen, Spuren der Naht aber würden bleiben.
III:
Gleich schnell noch ein Exkurs: In dem Film „Smoke“, 1995, des Regisseurs Wayne Wang, für den der Schriftsteller Paul Auster bekanntlich das Drehbuch geschrieben hat, macht Auggie Wren, der Besitzer eines kleinen Tabakladens in Brooklyn, jeden Morgen um genau acht Uhr ein Foto von seinem Laden.
Nanja Heid hat ebenfalls ein Jahr lang an jedem Tag die eine mehr oder weniger gleiche künstlerische Leistung vollbracht, sie hat nämlich ein Geräusch von dem jeweiligen Tag, wiederum nähend, gezeichnet. Das künstlerische Ergebnis sind mehrfarbige abstrakte Notate, die auf den ersten Blick an die ungegenständliche Malerei der 1950er Jahre erinnern mögen. Auf den zweiten Blick aber, der dann womöglich die ganze Serie reflektiert, wird klar, dass Nanja Heid hier, wie Auggie Wren in „Smoke“ auch, durch ihre tägliche ästhetische Übung eine so sinnliche wie konzeptionelle existenzielle Rückversicherung ihres Daseins vorgenommen hat. Die Künstlerin schreibt dann auch selbst über ihre ästhetische Arbeit: „Für mich ist Kunst eine Lebenshaltung. Alles ist miteinander verbunden, das Innen im Außen, das Außen ist im Innen wieder zu finden“. Genau in diesem Sinne übersetzt „Sequenz“, 2018 – 2019, das Außen, hier in Form des Geräuschs, das in das Innere ihres Ohres und so ihrer Wahrnehmung dringt, auf das Papier und verwebt so Tag für Tag Kunst und Alltag überaus sensibel miteinander.
IV.
Wirklich letzter und ganz kurzer Exkurs: „Just another brick in the wall“, so besang die Rockgruppe Pink Floyd 1979 die Steine einer so symbolischen wie konkreten Mauer, die (junge) Menschen voneinander trennt, eine Mauer, die am Ende ihres legendären Doppelalbums „The Wall“ niedergerissen wird.
„Bricks“, also Back-, aber auch Pflastersteine, finden sich immer wieder im Werk von Nanja Heid, und zwar in einer vergleichbaren Dialektik von Abgrenzung und vor allem Brüchigkeit, jetzt aber künstlerisch deutlich elaborierter in fast schon minimalistischer Konsequenz. Die „Steine“ werden von der Künstlerin zunächst in einer Gipsform ausgeformt, nach 12 Stunden wird die Form geöffnet und der hohle „Stein“ herausgeholt, dann gegebenenfalls bis zu dreimal glasiert und schließlich in einem Brennofen vollendet. Auch Textilien wurden in die Steine eingearbeitet. Die gesamte Prozedur ist eine relativ Ergebnis offene, das Resultat der künstlerischen Prozedur bleibt nämlich letztlich unberechenbar. So ereignet sich auch hier ein Balanceakt: Hält der Stein – oder nicht? In den Worten der Künstlerin: „Während Back- und Pflastersteine im Straßenbau oder in Mauern zum Schutz und zur Stabilität eingesetzt werden, lotet die Keramikarbeit die Brüchigkeit aus.“ Ihre eigentliche Funktion also können Nanja Heids „Steine“ nicht erfüllen, stattdessen liegen sie z. B. in „Stille Steine“, 2016 – 2018, in Reih und Glied in mehr oder weniger rechteckiger Anordnung auf dem Boden. So erinnern sie nicht von ungefähr an skulpturale Installationen der Minimal Art der 1960er Jahre, man denke nur an Bodenarbeiten von Carl Andre. Anders als die Minimal Art jedoch sind Nanja Heids „Steine“ nicht durch (technische) Präzision, Perfektion und Coolness charakterisiert, sondern kritisieren solche letztlich inhumanen Ansprüche durch ihre gezielt ungezielt herbeigeführte, also intendierte, von jeder möglichen Normierung abweichende, unkorrekte „Fehlerhaftigkeit“.
V.
In ihrem „Klangboden“, 2012- 15, spitzt Nanja Heid die Defunktionalisierung ihrer „Steine“ noch einmal zu. Ihre „Steine“ liegen in rechteckiger Anordnung auf dem Boden, dieses Mal hängt über ihnen eine Art Pendel, das über die Steine kreist und einzelne, unterschiedliche hohle Steine dabei berührt und so Klänge produziert. Dieser „Klangboden“ produziert als, wenn man/frau so will , konkreter Klangteppich aber nicht nur Töne, die kreisend-schwingenden Bewegungen des Pendels stellen zudem so etwas wie immaterielle Zeichnungen in der Luft dar. Eine Ästhetisierung ereignet sich hier, die, fast schon als Gesamtkunstwerk, skulpturale, akustische und zeichnerische Momente gleichzeitig in Szene setzt. Eine gleichsam „ästhetische Existenz“ also führt der „Klangboden“, eine Existenz, die diverse Bereiche umfasst und zu einer Einheit zusammenbringt, die so poetisch wie beinahe lapidar, so geplant wie dennoch unvorhersehbar erscheint – Kunst als Lebenshaltung eben.